Brief von Karl Simrock (1802-1876) an Herman Grimm (1828-1901), Sohn von Wilhelm und Dorothea Grimm. Der Kunsthistoriker, Schriftsteller und Übersetzer, u.a. „Leben und Werk Raffaels“ (früherer Titel „Das Leben Raphael‘s“), bereitete den Sommeraufenthalt 1853 der Familie Grimm im Rheinland vor. Sie reisten aus dem fernen Berlin an.


Lieber Herman!

Ihr Briefchen das an unsere Berliner nächtlichen Gespräche erfreulich anknüpft, bringt überdies die frohe Nachricht, daß die Ihrigen sich nächstens auf den Wunschmantel setzen und am Rhein irgendwo in unserer Nähe niederlassen wollen. Die von Ihnen vorgeschlagenen Orte Königswinter .oder Godesberg haben gewiß Ihre Vorzüge, auch wenn wir unsern eigenen Vortheil bedenken, da sie von hier aus leicht zu bestreichen sind. Liegt Godesberg auch nicht in unmittelbarer Nähe des Rheins, so gewährt es doch den prächtigen Blick auf das Siebengebirge und herrliche Spaziergänge wie den durch das Marienforsterthal nach dem alten Schloß Gudenau über Pech und Filipp; nur wäre vielleicht die Luft da noch reiner und lieblicher, wenn die reichen aber rohen Elberfelder Banquiers nicht so zahlreich umherschwärmten. Die machen auch das Pflaster da theuer; doch könnte man bei des Aloys Schwester, der Jgfr. Broichsitter, gleich am Eingang des Dorfs, am Fuße der Burg anständig und ganz wohlfeil unterkommen. Noch leichter und vielleicht besser ginge das in Königswinter, aber auch das ist schon zu städtisch geworden, obgleich das Siebengebirge groß genug ist für jeden Morgen und Nachmittag einen andern erquicklichen Spaziergang darzubieten. Doch gefällt mir Rudolfs Vorschlag besser. Zwar liegt Honnef mit einer Gasse unmittelbar am Rhein und die Dampfschiffe der beiden Gesellschaften fahren nicht da an, aber das kann sogar ein Vorzug scheinen, wenn man nicht gerne zu sehr überlaufen ist mit Besuchen, die Lokalschiffchen, die neuerdings auch in Honnef anlegen, werden nicht gar zu viele herbeiführen, da sich ihnen nicht Jeder anvertrauen mag. Sonst ist die Lage glücklicher als die von Königswinter, wo man dem Gebirge nur den Rücken zuwendet. Man läuft so schnell auf die Löwenburg als dort auf den Drachenfels und selbst dieser läßt sich von der Rhöndorfer Seite lustig, wenn auch nicht allzubequem, ersteigen. Aber schon ein Spaziergang durch das weitzerstreute Dorf und seine Hunschaften(1) ist ein köstlicher Genuß; die neue Straße hat ihn nur erleichtert, nicht verdorben. Bei Alt-Tillmann im Gasthaus zum Siebengebirge findet man wohlfeile und gute Kost, Logis freilich nicht mehr, wie ich erfahre; aber gleich gegenüber oder bei Rüdesheim sind noch Quartiere frei, und Wer sich bei Frau Tillmann in die Kost gäbe, würde täglich nicht über 25 Sgr bis 1 Thlr, das Quartier eingeschlossen, verzehren. Aber nun lassen Sie mich noch ein halb Stündchen weiter gehen, bis Rheinbreitbach, wo Rudolf sich wohl des ersten Hauses erinnert: bei Clouth, oder bei der Reizbaren(2). Ich weiß allerdings dem Verdachte nicht ganz aus dem Wege zu gehen, diesen Ort wegen der Nähe von Menzenberg in Vorschlag zu bringen. Aber Honnef liegt uns doch kaum weiter, und unsere Vorliebe für Breitbach beruht auf Vorzügen, die auch die Ihrigen anerkennen würden., Es ist sehr viel heimlicher und traulicher da, das Idyll wird nicht durch feine Staffage gestört, es ist keine Toilette nöthig, Gustelchen läuft im Morgenrock auf die Koppel oder auf das Horn(3) und winkt der Mutter herab, die eben zum Schlaffenster herausguckt. Und welch ein Mittelpunkt ist Breitbach! Wie nahe bei Rolandseck, bei Honnef, bei Unkel! Des schönen Gangs dahin und hinauf nach dem Hahnenpläsir erinnert sich Rudolf gewiß noch. Ich weiß nicht ob er mit mir hinübergefahren ist nach Birgel, dem ärmsten Dörfchen auf der Welt, aber mit der prachtvollsten Aussicht. Bei Rolandseck halten die Dampfschiffe und die Fähre bringt die Reisenden hinüber an den Pfannenweg, von wo man in 20 Minuten nach Breitbach geht. Auch in Unkel kann man sich aus- und einschiffen: von da geht man zwar etwas länger aber sehr angenehm nach dem idyllischen Breitbach, mit seinen Bergwerken und Rebengeländen. Die Bergmannsprache kann da der Apapa für das Wörterbuch aus dem Leben greifen. Neuerdings ist auch in Menzenberg ein Stollen in den Berg meines nächsten Nachbarn getrieben, und das Gesenk, in das ich neulich fast hineingefallen wäre, führt in einen zweiten Stollen. Menzenberg selbst stellen wir mit tausend Freuden unsern Reisenden zur Verfügung, wenn Ihr Aufenthalt in die Monate fällt, wo es uns doch leer stünde, denn vor dem September können wir nicht daran denken es zu beziehen. Ich bin weit entfernt zu wünschen, daß die Reise so lange verschoben werde bis der Herbst heranrückt, aber wenn es sich so fügte, daß bei frühem Satteln so spät geritten würde. dann freilich wären wir sehr stark dabei interessiert, Sie nirgend anders als bei Clouths in Breitbach, bei der Reizbaren untergebracht zu wissen. Soll ich auch hier von den Bedingungen sprechen so habe ich gehört, daß vier Personen täglich drei Thaler für Kost und Logis bezah1en, dafür aber auch wie Kinder im Hause gehalten sind, und das muß man der Reizbaren und ihrer Mutter nachsagen, daß man bei Ihnen nicht wie im Wirtshaus lebt, sondern ganz als wenn man bei sich zu Haus wäre. Wer nicht garzugroße Ansprüche macht, kann nirgends genüglicher und gemüthlicher leben: und von unsern Reisenden bin ich überzeugt, daß sie sich da gut gefallen würden. Gut wäre es freilich, wenn Sie sich bald entschlössen, wenn auch nicht gerade gleich zu reisen, doch die Zeit Ihrer Abreise und Hieherkunft zu bestimmen, denn Honnef sowohl als Breitbach werden jetzt im Spätsommer wie im Herbst stark besucht und die Vorsicht räth daher, zeitig seine Bestellung zu machen, ich bitte, Sich bald zu entschließen und mich wissen zu lassen, wo Sie Ihren Stab niedersetzen wollen, und wie viel Zimmer ich in Beschlag nehmen soll, und auf wie lange. Das schöne Landsknechtslied, das am Schlusse Ihres Brief stehen sollte, ist in der Feder geblieben, wird Ihnen aber nicht geschenkt, so wenig als das verheißene im Manuscript gedruckte Schauspiel [Demetrius]. Nach der Novelle in Gutzkows Unterhaltungen (4) werde ich mich erkundigen und mir den Genuß derselben durch Gutzkows albernen Moralspruch wenig verkümmern lassen. Die farce Pathelin(5) ist mir ganz fremd, wenn nicht etwa Mones Stück(6) (Weih!) damit zusammen fällt. Daß Reuchlin danach seinen Henno(7) gearbeitet hat, scheint allerdings auch Wackernagel übersehen zu haben. Es ist gut, wenn Sie uns über das Drama des 16. Jahrh. ein Licht aufstecken, und noch besser, wenn Sie das des 19. Jahrh. wieder in Schwung bringen. Warum müssen denn auch. Sie das Haus hüten? Können Sie dem Rudo1f das Hutgeld nicht allein überlassen? Wenn es nicht anders ist, so verwahren Sie es nur beide, um es im nächsten Herbst zu einer Rheinreise zu verwenden, bei der auch Wir nicht leer ausgehen. Der Fräulein Gustel bin ich noch den Dank für Ihr letztes zierliches Briefchen schuldig, verspare ihn aber noch für meinen nächsten Brief, um diesen nicht zu verspäten. Also auch Sie halten mich für einen Tischrücker? Ich konnte es verschmerzen, daß Gruppe(8), der nach der ersten Spalte, die den M. [agister] A. [artium] betraf, drei Spalten mit tischrückerischem Unsinn füllte. Aber - et tu mi Brute! Das ist zu stark! Zur Strafe schicke ich Ihnen nächstens mit dem 2 ten Heft meines Räthselbuchs(9) die Broschüre des Dr. Schauenburg(10): "Tischrücken und Tischklopfen eine Thatsache", damit Sie daraus, denn bis jetzt scheinen Sie nur ihren Titel zu kennen, sich überzeugen, daß besagter Hr Doctor kein Recht hatte, mir solche Ungelegenheiten zuzuziehen. Für diesmal leben Sie wohl. Ihre freundlichen Grüße soll ich herzlich erwiedern und von Haus zu Hause noch viele ebensolche hinzufügen. Mich bitte ich auf das Angelegentlichste zu empfehlen. Tragen Sie Sorge, daß ich bald mit Aufträgen beehrt werde. ich werde sie auf das Pünctlichste ausführen und hoffentlich zur Zufriedenheit Nochmals um baldigen Bescheid bittend Ihr K. Simrock
Bonn, den 3I ten Mai 53.

Erläuterungen:

(1) Früher Genossenschaften, heute Ortsteile
(2) Von Simrock so getauft, als eine der Töchter des Gasthaus ihm und Ferdinand Freiligrath
vom Oberstock aus mit den vollkommen ernst gemeinten Worten: „Ist das nicht eine reizbare Gegend?“ den schönen Rheinblick und das Siebengebirge zeigte.
(3) Bergrücken nordöstlich der Koppel, dem Rheinbreitbacher „Hausberg“
(4) Populäre Wochenschrift „Die Unterhaltung am häuslichen Herd“, 1852 von Karl Gutzkow (1811-1878) gegründet.
(5) Bedeutendste Komödie des Mittelalters, zwischen 1464-69 entstanden.
(6) Luzerner Fastnachtsspiel „Vom klugen Knecht“
(7) Johannes Reuchlin (1455-1522); „Henno ein Comedi“, deutsch von Hans Sachs 1531
(8) Otto Friedrich Gruppe (1804-1876), Dichter und Schriftsteller
(9) „Das deutsche Räthselbuch“. Zweite Sammlung. Frankfurt a.M. 1853
(10) Karl Hermann Schauenburg (1819-1876), Chirurg und Augenheilkundler in Bonn


Aus: „Die Grimms und die Simrocks in Briefen“ von Walther Ottendorff-Simrock, erschienen 1966 im Ferd. Dümmlers Verlag Bonn. Ursprüngliche Übersetzung/Schreibweise beibehalten. Neufassung / Erläuterungen durch die Karl-Simrock-Forschung, 53141 Bonn, Postfach 20 11 42, im Februar 2015.